Die Dorstener Schriftstellerin Dörthe Huth schreibt Bücher rund um die Lebensfreude, Geschichten, Gedichte und mehr. Sie ist eine exzellente Beobachterin und Erzählerin. Für Dorsten-Online macht sie sich auf Erkundungsgänge durch unsere Heimat.
Es braucht eine gewisse Entschlossenheit, sich dem Wassertreten im Herbst auszusetzen. Das goldene Licht der Herbstsonne verleiht der Szenerie um das Kneipp-Tretbecken eine fast magische Aura. Das Wasser glitzert, und in ihm spiegeln sich die Wolken. Die Zeit steht still, während man das Wasser an den Waden spürt und den Atem der Natur tief einatmet. Wassertreten, dieses einfache Ritual, das Sebastian Kneipp einst als Heilmittel hinterließ, ist für einige eine Technik zur körperlichen Kräftigung. Für andere ist es gleichzeitig ein ist ein Dialog, ein achtsames Hineinspüren in die Verbindung von Körper, Geist und den Elementen. Es erfordert nicht viel. Man braucht weder Vorbereitung noch Ausrüstung, nur die Bereitschaft, sich eine Weile auf das Gehen im Wasser einzulassen.

Bewusstheit in jedem Augenblick
Ich ziehe meine Schuhe aus und gehe die Stufen des Beckens hinunter. Anders als in den wärmeren Monaten, in denen das Wasser erfrischt, fühlt es sich bei kälteren Temperaturen eindringlich an. Als ich den Fuß ins Becken setze, durchfährt mich ein eisiger Schauen, wie ein Windhauch, der durch kahle Äste zieht. Er klettert über Fußsohlen, Knöchel und Waden nach oben und erobert rasch den ganzen Körper. Obwohl ich das Wasser nur meine Beine berührt, zieht sich die Haut merklich zusammen, das Blut strömt rascher und der Kreislauf kommt in Schwung. Die Welt um mich herum scheint sich zu verlangsamen. Und plötzlich ist da dieser Moment, in dem alles eins wird: der leichte Widerstand des Wassers, der kühle Hauch des Windes, die Geräusche vorbeifahrender Autos. Ein Moment, in dem spürbar wird, dass alles aus unzähligen Farben, Facetten und aus Gegensätzen besteht, aus Wärme und Kälte, Fülle und Leere, Abschied und Neubeginn. Jeder Schritt wird zu einem bewussten Akt des Erlebens.

Wassertreten als meditative Reise
Die alte Weisheit, dass Wasser reinigt, wird beim Wassertreten erfahrbar. Die Kälte fordert Aufmerksamkeit. So, wie das kalte Wasser den Körper belebt, befreit es auch den Geist von den Lasten des Alltags. Beim Durchschreiten des Beckens erwacht ein leises Bewusstsein: Der Herbst ist nicht nur der Abschied vom Sommer, sondern auch die Zeit der Einkehr. Passend zur Melancholie der Jahreszeit fällt all das Unnötige ab, wie die Blätter von den Bäumen. Nur das Wesentliche bleibt. Das Wassertreten wird zu einer meditativen Reise, einem Innehalten zwischen dem Rausch des sommerlichen Lebens und der einkehrenden Ruhe des herbstlichen Abschieds. Mit dem Herbst müssen wir uns dem Wandel stellen und nehmen die Vergänglichkeit wahr. So wird das Wassertreten gerade zu einem Ritual des Übergangs, das uns auf die Winterruhe vorbereitet. Es ist ein Aufruf, sich dem Moment hinzugeben, das Hier und Jetzt zu genießen, bevor die Blätter endgültig gefallen sind und der Frost die Erde umklammert.

Loslassen wie die Bäume ihre Blätter
Die Natur mag sich im Herbst zurückziehen, aber sie offenbart uns ihre Weisheit in jedem Wassertropfen. So wie die Bäume ihre Blätter loslassen, so lässt auch der Mensch im Wasser die Schwere des Alltags hinter sich, bis nichts mehr bleibt als die reine Erfahrung des Augenblicks.

Am Ende des Wassertretens gehe ich die Stufen wieder hinauf. Die Füße sind rot und belebt von der Kälte und scheinen weniger empfindlich als zuvor. Die Luft scheint wärmer geworden zu sein. Der Körper ist erfrischt, der Geist wach und die Sinne geschärft. Während ich mir die Schuhe wieder anziehe, spüre ich, dass mich diese innere Ruhe, die ich hier gerade gewonnen habe, noch eine ganze Weile begleiten wird.