Wie ein sagenhaftes Ungeheuer ragt der gigantische Kran über die Bäume an der Lippe. Er läutet das letzte Kapitel für die fast hundert Jahre alten Stahlbrücke am Dorf Hervest ein. Nun kann ein neues Kapitel für die Lippebrücke Hervest beginnen.
Mächtige Nieten wurden in den Jahren 1925 und 1926 in schwere Stahlträger getrieben. Eine neue Brücke sollte es werden, 120 Meter lang und für die schwersten Motorwagen geeignet. Ein Meisterwerk deutscher Ingenieurkunst, nur wenige Monate nach dem Ende der belgischen Besetzung von Hervest erbaut. Ganz schön stolz waren die Hervester daher über diese neue Brücke. Ob die Ingenieure und Bauleute wohl dachten, das Bauwerk würde eine Ewigkeit halten?
Das Ende für die Lippebrücke
Am vergangenen Freitag war dann endgültig klar, dass das Ende gekommen war. Spielerisch hob der gigantische Raupenkran das erste Teilstück aus der Brücke und unterbrach zum ersten Mal seit 1945 den Hervester Lippeübergang. Damals, in den letzten Kriegswochen, war die Brücke teilweise gesprengt worden. 1947 entschloss man sich für die Reparatur.
2020 stand man vor der gleichen Frage. “Sanieren oder Neubau, das war die Frage”, erklärt Carsten Uhlenbrock. Der Fachdienstleister Tiefbau berichtet, wie vernichtend das Urteil der Brückenprüfer 2018 ausgefallen war. “Das Hauptproblem waren die Korrosionsschäden”, so Uhlenbrock. Auf Deutsch: Den Hervestern rostete die Brücke unter den Füßen weg.
Eile war geboten
Das war der Punkt, an dem der Kreis Recklinghausen dringend tätig werden musste. Die Brückenlager wurden mit Notstapeln abgestützt, und der westliche Fahrradstreifen komplett gesperrt. Nur noch ein Fahrstreifen stand nun zu Verfügung, und eine Ampel regelte von nun an den Verkehr. Den meisten Dorstenern wurde jetzt erst bewusst, dass etwas mit der alten Lippebrücke nicht in Ordnung war. Genervte Reaktionen waren die Folge, denn viele Pendler zwischen Hervest und Marl nutzten den Übergang jeden Tag. Im allgemeinen Murren schwang die Hoffnung mit, die Brücke würde hoffentlich bald repariert werden.
Das konnte man allerdings vergessen. Im Juni 2020, mitten in der Corona-Krise, wurde dann vom Kreistag über die Zukunft der Lippebrücke entschieden. Das Ergebnis war einstimmig: Keine Sanierung, dafür grünes Licht für einen Neubau. Man ging davon aus, dass die Planer und Bauleute rund fünf Jahre Zeit hätten, bis das neue Bauwerk stehen sollte. So lange sollte der eiserne Veteran aus den 1920ern noch durchhalten.
Doch auch das war Wunschdenken. “Die zweite Brückenprüfung im Jahr 2021 stellte dann fest, dass das Bauwerk in einem noch schlechteren Zustand war, als man schon wusste”, erinnert sich Carsten Uhlenbrock. “Die Konsequenz war, dass wir überhaupt keine Fahrzeuge über 3,5 Tonnen mehr über die Brücke lassen konnten. Dazu gehörten natürlich Lastwagen und Busse, aber auch Rettungswagen und landwirtschaftliche Fahrzeuge”.
Wo bekommt man eine D-Brücke her?
Das war natürlich kein haltbarer Zustand, zumal die Lippebrücke immer mehr verfiel. “Wir haben uns daher entschieden, eine Zwischenlösung mit einer D-Brücke umzusetzen”, so Carsten Uhlenbrock. Die D-Brücke hatte seinerzeit der Krupp-Konzern entwickelt, um relativ zügig Flussübergänge zu schaffen. Eigentlich ist sie als Behelfsbrücke gedacht, aber viele sind auch als Dauerlösungen noch Jahrzehnte später im Einsatz. Ein gutes und bewährtes Konzept also, aber woher nehmen?
“Als wir das Ende September 2021 beschlossen hatten, war der Markt so gut wie leer gefegt”, erinnert sich Uhlenbrock. Kein Wunder: Es war das Jahr der Ahrtal-Katastrophe. Die Flut hatte über 60 Brücken weggerissen, über 20 weitere schwer beschädigt. Die Fluthelfer forderten alles an, was an Not- und Behelfsbrücken verfügbar war. “Es hat also gedauert, bis wir eine D-Brücke für die Lippe bekommen konnten”, so Uhlenbrock. “Und tatsächlich kommt sie auch direkt aus dem Ahrtal.”
Herausforderung Naturschutz
Die Brücke war gefunden, aber nun stand das nächste Problem ins Haus. Eines, mit dem sich die Ingenieure von hundert Jahren nicht mal in ihren sentimentalsten Momenten beschäftigt hätten. “Wir sind hier in einem FFH-Gebiet”, erklärt Mark Breidenbach vom Ingenieurbüro Bockermann Fritze aus Enger. FFH, das steht für “Flora-Fauna-Habitat” und zeichnet besonders schützenswerte Naturgebiete aus. “Deshalb mussten wir bei der Planung sehr darauf achten, dass die Natur so wenig wie möglich beeinträchtigt wird.”
Denn nicht nur die Lippeauen unter der Brücke, sondern auch der Wald an den beiden Ufern ist Naturschutzgebiet. Das Ziel war also, mit so wenig Platz wie möglich auszukommen. “Deswegen haben wir uns auch für einen richtig großen Kran entschieden, damit man möglichst wenig in den Lippenauen arbeiten muss”, so Breidenbach. Um diesen aufzustellen, brauchte man aber Platz. “Daher mussten leider einige Bäume weichen”, bedauert der Ingenieur. Zuvor hatten aber Naturschutzexperten ganz genau überprüft, wie man die hier lebenden Tiere schonen kann. Jedes Nest wurde dabei kartiert und der Wald auf seltene Arten untersucht.
Der “richtig große” Kran
Der “richtig große Kran”, wie Breidenbach ihn nennt, ist wirklich eines: Richtig, richtig groß. “Das ist so ziemlich das Größte, was man auf dem Markt bekommen kann”, betont Carsten Uhlenbrock. Mark Breidenbach ergänzt: “Der Raupenkran wurde in Einzelteilen vor Ort gebracht. Dazu waren 55 Tieflader nötig, und der Aufbau hat drei Wochen gebraucht.” Wenn man sich das 700 Tonnen schwere Monster ansieht, kann man kaum glauben, dass diese Maschine nicht nur Lasten heben, sondern auch selbstständig fahren kann.
Die richtige Balance
Obwohl der stählerne Behemoth bis zu 1200 Tonnen Last heben kann, sind doch viele Vorarbeiten nötig, um die Hervester Lippebrücke aus ihren Lagern zu wuchten. “Wir müssen die Lippebrücke zunächst teilen”, erläutert Henrik Send von der Baufirma Heinrich Send GmbH. “Dabei müssen wir auch wegen der Naturschutzauflagen vorsichtig und differenziert arbeiten.” So ist die Brücke etwa mit einer hochgiftigen Bleilackierung umhüllt, die auf keinen Fall in die Lippeauen gelangen darf.
Und auch das richtige Gleichgewicht ist entscheidend, wie man am Freitag sehen konnte. Zunächst hob sich die Brücke ein Stück aus den Lagern, doch dann kam das Kommando, sie wieder abzusenken. “Die Brücke ist nicht ganz im Gleichgewicht”, beschreibt Bauleiter Frank Winkler das Problem. “Daher müssen wir die Ketten versetzen, und das dauert ein wenig.” Immer wieder müssen die Bauleute nacharbeiten, selbst unter der Brücke wird noch gearbeitet. “Wenn die Brücke nicht in der Balance hängt, dreht sich die Last im Haken. Das kann dann gefährlich werden”, so Winkler.
Schließlich ist es dann aber doch geschafft. Die Brücke hebt sich aus den Lagern und schwebt am Kran. Wie ein Spielzeug bewegt der mächtige Kran die über 100 Tonnen in einem weiten Bogen. Das Brückenteil schwebt über den Wald und wird sanft am Heck des Raupenkrans abgesetzt. Damit hat die Brücke endgültig ausgedient und wartet nun auf ihren Abtransport.
Neue Brücke erst 2024
Und wann können die Hervester wieder hier über die Lippe? Das dauert noch etwas, erklärt Mark Breidenbach. “Wir müssen die Stützen noch ertüchtigen, bis die Behelfsbrücke aufgesetzt werden kann.” Er ist aber zuversichtlich, dass die D-Brücke im Januar eröffnet werden kann. Bis dann die endgültige Lippebrücke durchgeplant und gebaut ist, werden aber noch einige Jahre ins Land gehen.