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Montag, Juni 16, 2025
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Narva, Russland und eine verbotene Stadt

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Der erste Blick nach Russland die Straße runter. Foto: Alexander Fichtner

Im fünften Teil geht es für den Reisenden Alexander Fichtner nach Narva, bis an die russische Grenze und in eine ehemals verbotene Stadt in Estland.

Morgens fährt der Zug Richtung Russland von Tallinn aus los. Aber in der estländischen Grenzstadt Narva ist Schluss. Denn der Zug endet hier. Es ist EU-Außengrenze, und aufgrund des Kriegs in der Ukraine ist die Ein- und Ausreise nach Russland umständlich. Etwa drei Stunden dauert die Zugfahrt. Zeit, um Musik zu hören, etwas zu lesen und einfach aus dem Fenster zu schauen und die Region zu genießen.

Die meiste Zeit während der Zugfahrt bot sich dieser Ausblick. Foto: Alexander Fichtner

Unauffällig zieht der Zug durch die Landschaft. Viele Felder und Wälder rauschen vorbei. Die Region wirkt unverfälscht und ein bisschen in der Zeit stehen geblieben. Doch holen einen Bahnübergänge und Überlandleitungen immer wieder zurück in die Gegenwart.

Ankunft in Narva

Bereits als der Zug ankommt und noch nicht mal gehalten hat, wird es hektisch. Die Leute stehen auf, packen ihre Taschen und stellen sich in den Gang. Das kennt man sonst nur aus dem Flugzeug. Zum Glück wurde nicht applaudiert bei der Einfahrt ans Gleis. Im Bahnhof kommt man sich vor wie am Flughafen. Hier stehen Schleusen und Kabinen zur Passkontrolle. Überall sind Schilder, die zeigen, dass man nicht fotografieren darf. Narva ist EU-Grenzstadt. Man merkt, dass die Stadt anders ist.

Narva mit der Grenzbrücke. Foto: Alexander Fichtner

Angekommen in der Stadt geht es zum Apartment. Es sind über 30 Grad Celsius. Kurz geduscht, dann geht es ausgeruht Richtung Fluss. Das fließende Gewässer ist die Narva, die seit dem Spätmittelalter die Grenze zwischen Estland und Russland darstellt. Früher war die Nachbarstadt Iwangorod immer Teil von Estland. Nach der Okkupation Estlands durch die Sowjetunion 1940 galt der Fluss als Grenze. Nach der Wiederherstellung der Souveränität Estlands 1991 zählt dieser Grenzverlauf bis heute.

Unten am Fluss

Die Straße runter und man sieht die andere Flussseite. Man erkennt keine Unterschiede zu den Häusern oder der Vegetation am Ufer. Es sieht alles gleich aus. Aber es ist doch anders. Am Ufer entlang geht es Richtung Innenstadt und immer wieder wandert der Blick über das Wasser. Leute angeln auf beiden Uferseiten, schwimmen oder gehen spazieren.

Blick von der Hermannsfeste zur russischen Seite mit Badegästen. Foto: Alexander Fichtner

Doch plötzlich stoppt ein Geländewagen und zwei Beamte mit Maschinenpistolen steigen aus. Sie begrüßen einen freundlich, aber bestimmend. Sie fragen nach Ausweispapieren und den Grund, warum man hier am Wasser entlang läuft. Während des kurzen Gespräches versteht der Beamte, das man nur spazieren geht. Daraufhin sagt er, er möchte den Ausweis kontrollieren, dazu verschwindet er im Fahrzeug. Ein anderer Beamte steigt aus und fragt erneut, warum man hier am Fluss entlang läuft. Er trägt die Uniform der Bundespolizei. Die Antwort auf Deutsch überrascht den Beamten und bringt ihn zum Lächeln. „Was machst du denn hier“, fragt er. Die Antwort, dass man auf einer Rundreise durch das Baltikum ist. Dazu schließlich möglichst weit in die Richtung Osten reisen will, stellt auch ihn zufrieden.

Die Hermannsfeste in Narva. Foto: Alexander Fichtner

Jetzt gibt es noch Small Talk und der andere estländische Beamte kommt dazu. Schnell ist eine halbe Stunde rum, in der wir auf Englisch und Deutsch über die Stadt mit ihrer Grenze und dem Krieg gesprochen haben. Allerdings wird auch unbedingt ein Besuch auf der Hermannsfeste empfohlen, sowie ein Restaurant und eine kleine Bar direkt am Ufer. Schnell wird noch eine Visitenkarte überreicht mit dem Hinweis, wenn Probleme oder Fragen in Narva auftauchen, soll man einfach eben anrufen. Es kommt einem wie in einem Agentenfilm vor.

Die andere Seite

Der Blick nach Sankt Petersburg. Naja fast es sind ja schon noch 150 KM bis dort. Foto: Alexander Fichtner

Das Leben auf der gegenüberliegenden Uferseite scheint nicht viel anders zu sein. Es folgt nur einem anderen System. Etwa 150 km weiter liegt Sankt Petersburg. Man denkt fast, dass man die Metropole am Horizont erblicken kann. Beim Blick von der Burg rüber nach Iwangorod sieht man, wie die Grenze gesichert ist. Es scheint, dass die Narva-Seite wesentlich stärker ausgebaut ist. Beim Abstieg vom Turm erblickt man noch eine besondere Skulptur. Hinter einen Bauzaun sieht es so aus, als würde Genosse Lenin an der Hausmauer lehnen und warnend nach Osten schaut. Es ist wahrscheinlich das letzte Lenin-Denkmal in Estland. Einst stand es auf dem zentralen Platz und pflegt jetzt hier in der Ecke ein trauriges Dasein. Nun geht es zurück zum Apartment durch die Stadt mit einem Halt im empfohlenen Restaurant.

Unten vor dem Haus ist Genosse Lenin. Die Straße zeigt Teile der Grenzbefestigung auf EU Seite. Foto: Alexander Fichtner

Der Morgen darauf

Auf zum Bahnhof und weiter mit dem Bus nach Sillamäe. Wieder so ein komischer Name. Auf Deutsch heißt es Sillamäggi was den Namen auch nicht aussprechbarer macht. Die Stadt entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem beliebten Bade und Kur Ort. Viele Bürger der Oberschicht aus Sankt Petersburg verbrachten hier in ihren Villen oder Datschen den Sommer. Aber auch Intellektuelle oder Künstler genossen das beschauliche Klima an der Küste. Der Komponist Pjotr Tschaikowski oder der Nobelpreisträger und Physiologe Iwan Pawlow waren regelmäßige Sommergäste.

Der Blick runter zur Ostsee vom Kulturpalast aus. Foto: Alexander Fichtner

Doch das Besondere ist die Nachkriegsgeschichte der Stadt. Sillamäe war eine geschlossene Stadt. Das heißt, dass sie nicht auf frei erhältlichen Landkarten verzeichnet war und dass die Bevölkerung unter vielen Vorteilen in einer abgeriegelten Stadt lebte und arbeitete. Ein goldener Käfig. Dieser Ort war Top Secret. Denn hier wurde Uranoxid abgebaut und angereichert. Das angereicherte Uran wurde für die sowjetischen Atomkraftwerke und zum Ausbau der nuklearen Rüstungsindustrie benötigt. Noch heute gibt es einige dieser Städte in Russland. Allerdings sind sie nicht mehr so geheim wie zu Zeiten der UdSSR.

Das Denkmal zum Sieg des Menschen über die Atomkraft. Foto: Alexander Fichtner

Ein großer Teil der Gebäude in der Stadt ist im „Sozialistischer Klassizismus“ errichtet. Ab Anfang der 1930er-Jahre war der Klassizismus ein offiziell propagierte Kunststil in der Sowjetunion. Es sollten stark verzierte Wohnpaläste und Kulturpaläste für das arbeitende Volk geschaffen werden. Nach dem Tod von Josef Stalin (1953) und der Entstalinisierung unter Chruschtschow wurde weniger auffällig gebaut. So entstand unter ihm auch die Chruschtschowka, ein einfacher Plattenbau-Typ, der schnell und kostengünstig die Wohnungsknappheit bekämpfen sollte.

Der Kulturpalast mit Bunker im Keller ist noch in einem Orginalzustand mit Lenin Relief an der Wand. Foto: Alexander Fichtner

Mit dem Bus zurück nach Narva

Es geht heimwärts nach Narva. Noch einmal runter zum Fluss und einen Blick nach Russland werfen. Dann langsam heimwärts zu meinem Apartment in einer Chruschtschowka schlendern und früh schlafen gehen. Denn morgen um fünf fährt von Narva nach Tallinn der Zug zurück. Von dort geht es mit dem Bus weiter nach Riga. Denn außerhalb der lettischen Hauptstadt gibt es noch ein neues Ziel zu entdecken.

Ein letzter Blick auf die russische Seite der Narva. Foto: Alexander Fichtner

Im letzten Teil der Serie wird es faul am Strand und unser Autor geht verloren.

Die vorigen Teile findet ihr hier:

  1. Teil: Riga in einem neuen Klima
  2. Teil: Rooftopping in Riga
  3. Teil: Tallinn, Baltisches Meer und mehr
  4. Teil: Skandinavien über die Ostsee

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